Am Abgrund – ein (Nach-)Geburtsbericht

*Achtung: Trigger-Warnung*

Ich empfehle zuvor den Text: „Fenster zu meiner Seele – Ein- und Ausblicke“ zu lesen.

Ich öffne meine Augen. Mein Körper baut das Betäubungsmittel aus der Spinatanästhesie irgendwie nicht richtig ab. Atmen fällt mir unheimlich schwer. Ich versuche panisch Luft in meine Lungen zu ziehen. Es entsteht ein widerlich pfeifendes Geräusch. Ich werde hektisch mit Hilfe von Medikamenten wieder in einen Dämmerschlaf versetzt. SCHWARZ. Abermals. Dieses Schauspiel wiederholt sich noch einige Male. Mein Körper hat aufgegeben. Ich habe aufgegeben. Ich kann nicht mehr – möchte in der Dunkelheit des Vergessens versinken. Nie wieder auftauchen. Niemals. Niemals wieder. Es sollte noch Wochen dauern, bis ich nach 100-200m nicht nach Luft ringe und es dauert bis heute an, dass ich keine Umarmungen ertrage. Alles was meinen Brustkorb in irgendeiner Weise einengt, löst Panik in mir aus. Das Gefühl, als würde ich von einer gigantisch großen Steinplatte erdrückt werden, ist dann sofort wieder präsent.

Allein

Irgendwann bekam ich wieder etwas mehr Luft und wurde zum Herzensmann, der alleine im Kreissaal saß, gebracht. Unser Kind war nicht da. Weggebracht von Fremden auf die Kinderintensivstation – allein. Ich fühle einen tiefen unbändigen Schmerz in meiner Seele brennen, der mich fast zerreißt. Die Sehnsucht nach meinem Kind ist überwältigend – erdrückend. Der Gedanke an mein Kind war das einzigste, was mich hat durchhalten lassen. Wo bitte ist jetzt meine „Belohnung“? Ich habe doch alles erduldet, wieso gibt es kein „Happy End“ für mich? Ich kann einfach nicht mehr. Das Maß ist voll. Wieviel Schmerz kann ein Mensch ertragen, bevor er unwiederbringlich zerbricht? In tausend Stücke zerspringt, die niemals wieder zusammen zu setzen sind. Ich befand mich an der Schwelle – am Abgrund. Wenn ich dem Sog des Abgrundes nachgebe, mich fallen lasse in die unendliche Dunkelheit, dann zerschelle ich – zerstört für immer, unheilbar. Aber noch bin ich nicht ganz bereit aufzugeben. Eine kleine innere Stimme will nicht. Ich nenne sie: meine innere Kakerlake. Immer dann, wenn alles ausweglos erscheint und meine kleine Welt in Schutt und Asche liegt, dann wird ihre Stimme um so lauter. Aber später mehr von ihr 😉

Bonding? – Fehlanzeige

Eine Frage, die ich bis heute nicht genau erklären konnte: Warum musste NotYet überhaupt auf die Kinderstation? Der Apgar-Test war mit 9/9/10 super. Ich kann nur spekulieren, was ich nicht will, weil es an der Tatsache nichts ändert: man hat mich von meinem Kind abgeschirmt. Ferngehalten. Konsequent. Es wurde absolut NICHTS, rein gar nichts, für ein Bonding getan. Im Gegenteil. Ich musste kämpfen für jeden Kontakt zu meinen Kind. Es ist absurd. Ich bin doch die Mutter!!! Selbst eine Milchpumpe wurde mir  erst nach 24 Stunden gewährt, trotz immer währender Nachfragen, und Stillen? – mit 48 Stunden Verspätung. Ein Unding. Ich bin immer noch schockiert. Fassungslos. Sie haben mir in diesen 3 Tagen alles genommen: meine Menschenwürde, meine Würde als Frau, meine körperliche Unversehrtheit, meine Selbstbestimmtheit, mein Kind, meine Achtung, meinen inneren Halt… Ich war jetzt tatsächlich im freien Fall, ungebremst in den Abgrund hinab. Wie sollte ich da wieder hinauskommen? Will ich das überhaupt? Kann ich nochmal so viel Kraft aufbringen? Meine kleine innere Kakerlake haucht ein „JA“ und krallt sich mit letzter Kraft an der steilen Felswand des Abgrundes fest. Oben sehe ich noch irgendwo das Licht. Dahin will die Kakerlake. Ein mühsamer Weg beginnt.

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Geburtstrauma – gesellschaftlich ein Tabu

Mir selbst war schnell klar, dass ich schwer traumarisiert war. Leider traf das nur auf mich zu 🙁 Kein anderer in meinem Umfeld wollte das wahr haben. Vielleicht passte ich mit meinen „Problemen“ auch einfach nicht in das gesellschaftlich verbreitet Bild, von einer Mutter, die fast automatisch debil lächelnd in ihrer Glückseligkeit aufgeht, sobald sie ein gesundes Kind in den Armen hält. War ich zu anspruchsvoll? Habe ich zu viel von der Geburt erwartet, zu viel von den Ärzten und Hebammen verlangt? Darf ich mich überhaupt beschweren? Habe ich ein Recht dazu? Viele Fragen gingen mir damals durch den Kopf. Selbstzweifel und -vorwürfe prägten meine Gedankenwelt. Aber ich kam immer wieder zu dem Punkt, an dem ich mir sagte: MIR ist etwas Schreckliches passiert und ich habe ein verdammtes Recht darauf, traurig zu sein! Was aber nicht bedeutet, dass ich nicht froh bin, dass ich ein gesundes Kind habe. Darüber bin ich heilfroh! Wirklich!!! Dankbar, da dies nicht selbstverständlich ist. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Einmal das Kind und einmal ich – ich als eigenständige Person. Ich bin nicht gesund aus dieser Geburt hervorgekommen – weder physisch noch psychisch! Meine innere Kakerlake war jetzt auf eine Revolte aus. Sie wollte nicht mehr still ertragen, sondern laut verkünden, was für ein Unrecht mir angetan wurde.

Meine Gefühle habe ich hinter einem Schutzwall verschlossen

Zu diesem Zeitpunkt ist mittlerweile fast ein ganzes Jahr vergangen seit der Geburt von NotYet. Ich habe viel gelesen – insbesondere zum Thema Kaiserschnitt*. Das half bis zu einem gewissen Punkt, aber da war ja noch so viel mehr. Verschlossen hinter den undurchdringlichen Stahltüren meiner Seele. Meinem Schutzwall. Sollte er brechen… nicht auszudenken. Leider befanden sich ALLE Gefühle dort weggesperrt. Separieren geht ja nicht – gute Emotionen bitte hier entlang, ich möchte euch so gerne empfinden und die negativen schließe ich einfach je nach Laune weg. Das wäre zu schön gewesen… Die Realität sah aber anders aus. Traumabedingt (wie meine Therapeutin mir später erklärte) fiel es mir sehr schwer überhaupt Emotionen, Gefühlsregungen zu spüren, zu empfinden. Ich war regelrecht abgeschnitten von ihnen. (Falls einige von euch jetzt denken mögen, die hatte doch eine postnatale Depression… Nein, hatte ich nicht. Alles abgeklärt und diagnostisch bestätigt.)

EMDR-Therapie – eine intensive Erfahrung

Im September 2012 – 1 Jahr und 3 Monate nach der Geburt von NotYet – beginne ich endlich meine Traumatherapie mit EMDREMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing (Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung) und wird zur Behandlung von Traumafolgestörungen genutzt. Diese besondere Form der Therapie basiert auf einer bilateraler Stimulation. Diese unterstützt das Gehirn, damit es die eigenen Selbstheilungskräfte aktivieren kann und die belastenden Erinnerungen verarbeitet werden können. Es ist absolut kein Spaziergang! Jede Sitzung hat mich an meine emotionalen und körperlichen Grenzen gebracht. Und manchmal auch weit darüber hinaus:

Meine Augen folgen dem Lichtpunkt auf dem Stativ. Von rechts nach links. Von links nach rechts. Immer hin und her. Ich soll mich gedanklich in den OP zurück versetzten. Ich spüre Tränen in meinen Augen aufsteigen. Mein Puls beschleunigt sich. Ich fange an zu schwitzen – meine Handflächen sind mit kalten Schweiß bedeckt; auch meine Stirn. Ich spüre, wie sich ein Stahlring um meinen Brustkorb zu legen scheint. Immer enger zieht er sich zusammen. Unerbittlich. Panik steigt in mir auf. Ich habe Angst, dass ich erdrückt werde, zerquetscht, zermalmt. Meine Atmung geht schnell und flach. Ich fange wohl an zu hyperventilierten? Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur an die Stimme meiner Therapeutin, die mich durch meine Gefühlswelt leitet. Sie ermahnt mich weiter zu „forschen“. Ich befinde mich immer noch vor meinem Schutzwall. Kratze höchstens an seinen Fundamenten. Wenn ich ehrlich mit mir selber bin, weis ich das nur allzu genau 🙁 . Meine Augen folgen weiter dem Lichtpunkt. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, öffnet unablässig Erinnerungsschubladen, wühlt immer tiefer und tiefer – dann plötzlich: der Schutzwall bekommt bedrohliche Risse. Das erste Mal! Mein Gehirn reißt ungebremst weitere Schubladen auf. Wie im Rausch. Gefühle fluten mich, reißen mich mit. Ich kann mich nicht mehr halten. Ich rutsche wimmernd vom Stuhl. Rolle mich von Tränen geschüttelt in embryonaler Haltung auf dem Teppich zusammen. Bin nicht mehr ganz in der Realität. Mein Kreislauf droht zu versagen – genau wie im OP bei der Geburt. Mein Körper durchlebt alles noch einmal. Erst das liebevolle lange Streicheln meiner Therapeutin über meinem Rücken holt mich ins Hier und Jetzt zurück.

Ein Trip, den ich mit Sicherheit nicht freiwillig wiederholen möchte, der aber essentiell notwendig war, um mein Trauma hinter mir zu lassen. Jede verdammte einzelne traumatische Begebenheit habe ich noch einmal durchleben müssen – in genau dieser Form. Es war und ist harte Arbeit. Aber es hat mir den Weg bereitet, dass ich für eine weitere Schwangerschaft und Geburt bereit war. Und ich wurde königlich belohnt. Heute kann ich sagen: Alle Mühen haben sich gelohnt. Alles!!! Einfach alles. Aber zwischendurch dachte ich oftmals ans Aufgeben. Immer wieder in den Abgrund schauen zu müssen, immer wieder an meine Grenzen zu gehen. Das hat zermürbt. Ehrlich! Meine innere Kakerlake war aber immer der Meinung: Jetzt erst recht!

Wer lesen möchte, wie es weitergeht, empfehle ich: „Es werde Licht – ein (Vor-)Geburtsbericht“

*Hier möchte ich allen „unglücklichen“ Kaiserschnitt-Mamas das Buch „Kaiserschnitt und Kaiserschnittmütter“ von Brigitte Renate Meissner empfehlen <3

*EURE MOTHER BIRTH*

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#Trauma #EMDR #Geburt #Therapie #Gefühle

22 Gedanken zu „Am Abgrund – ein (Nach-)Geburtsbericht

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  10. kiwimamasblog Antworten

    Mir schnürt es regelrecht die Kehle zu deinen Beitrag zu lesen. Es ist wirklich grausam, was dir angetan wurde und absolut unverantwortlich. Ich werde richtig sauer, wenn ich darüber nachdenke…
    Was aus deinem Text aber hervorgeht ist: Du bist eine verdammt starke Frau mit einer verdammt coolen Kakerlake an deiner Seite! 😉 Ihr seid ein gutes Team, soviel steht fest.
    Fühl dich gedrückt!

    Alles Liebe,
    Steffi

    • motherbirthblog Autor des BeitragsAntworten

      Ja, meine kleine Kakerlake ist echt viel wert! Kann ich nur jedem empfehlen <3
      Danke dir für dein Mitgefühl. Es tut unheimlich gut!

      Liebe Grüße
      Mother Birth

    • motherbirthblog Autor des BeitragsAntworten

      Trauma ist Horrorfilm in live! Da hast du recht. Sei froh, dass du dir das nur vor dem Rechner beim Lesen meiner Texte geben musst 😉 … #nichtempfehlenswert
      Und du darfst dich immer gerne wiederholen <3

      Liebe Grüße
      Mother Birth

      • schnuppismama Antworten

        Ach mit Trauma kenne ich mich leider aus, aber eben nicht mit diesem.
        Ich bin Dir jedenfalls sehr dankbar, dass Du uns an all dem teilhaben lässt und denen, die so etwas nicht erleben mussten, die Chance gibst, zumindest eine Ahnung und ungefähre Vorstellung davon zu bekommen!

        • motherbirthblog Autor des BeitragsAntworten

          Es tut mir leid, dass du auch ein Trauma hast/ hattest… Fühle dich von mir umarmt <3
          Ich möchte wachrütteln mit meiner Geschichte über die Missstände in der Geburtshilfe. Ich bin kein Einzelfall und das ist schrecklich. Jeden Tag werden Frauen traumarisiert während sie ihre Kinder bekommen. Das muss sich ändern!!! Dafür kämpfe ich 🙂

          Liebe Grüße
          Mother Birth

          Danke dass du immer so fleißig liest <3

  11. Pingback: Es werde Licht – ein (Vor-)Geburtsbericht | motherbirthblog

  12. Susanne Antworten

    Ich kann wahrscheinlich nicht in Ansätzen nachfühlen was du durchgemacht hast. Danke, dass du es hier teilst und anderen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten Hoffnung gibst. Das ist unglaublich wertvoll! ❤️
    Danke!

    • motherbirthblog Autor des BeitragsAntworten

      Ich habe alleinig aus diesem Grund mich dazu entschlossen es hier im Netz öffentlich zu teilen. Ich möchte zeigen, dass mein Weg alles andere war als einfach und simpel. Ich habe nicht „geschenkt“ bekommen… Ich möchte Hoffnung geben, da hast du recht! Aber ich möchte auch, dass sich meine Leser auch mit mir identifizieren können – deshalb müssen sie auch die „ganze Wahrheit“ wissen und nicht nur das positive Happy End!!!
      Danke für dein Lob! Darüber freue ich mich immer sehr <3

      Liebe Grüße
      Mother Birth

  13. Pingback: Fenster zu meiner Seele – Ein- und Ausblicke | motherbirthblog

  14. familienzuschlag Antworten

    Meine Liebe,
    Ich hatte Gänsehaut, ich hatte Tränen in den Augen und mein Herz klopft. Ich weiss gar nicht wo ich anfangen soll. Es ist so schrecklich, dass sie dir NotYet einfach nicht gegeben haben, dass du um die Bindung zu deinem Kind kämpfen musstest, dass sie dich so alleine gelassen haben. Und auch deinen Mann – ohne Kind und Frau. Ihr alle getrennt von einander. Wie furchtbar. Und ebenso furchtbar, dass dich niemand hören wollte. Dass niemand deinen Schmerz nach dieser Erfahrung zu lassen wollte. Das ist so typisch für unsere Gesellschaft. Eine Mutter hat mit einem gesunden Kind glücklich zu sein. Dass das oft gar nicht zur Debatte steht, ist völlig egal.
    Ich bewundere dich mal wieder, dass du so eine starke (Kakerlake) Persönlichkeit bist und dich nicht deinem Schicksal ergeben hast.
    Bewundernde Grüsse, Juli

    • motherbirthblog Autor des BeitragsAntworten

      Du sagst es! Alle allein, alle getrennt! Das macht das zusammenwachsen als Familie unglaublich schwer. Der Papa hatte dann in den ersten beiden Tagen mehr Kontakt zu NotYet. Deshalb wurde er zu seiner primären Bindungsperson und nicht ich. Ich war “nur” fürs Stillen da. Danach wurde gellend nach Papa gebrüllt. Bloß weg von mir. Selbst andere Personen wurden besser akzeptiert als ich. Ich hatte das Gefühl, als wenn es mich dafür strafen will, dass ich ihn im Stich gelassen habe, ihn nicht genügend beschützt habe. Das erste Jahr war eine wahrliche Herausforderung für uns.
      Ich würde vermutlich heute nicht dort stehen, wo ich jetzt bin, wenn ich damals nicht gekämpft hätte! Ich will zeigen, dass es sich lohnt nicht aufzugeben, egal wie scheiße und ausweglos die Ausgangslage zunächst erscheinen mag.

      Liebe Grüße
      Mother Birth

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