Haben Frauen, die unter der Geburt Bevormundungen und Gewalt – physischer und psychischer Natur – erleben mussten, sich selbst zum Opfer gemacht? Hätten sie sich einfach nur besser wehren müssen und schon wäre alles gut? Ist das tatsächlich so einfach?! Ich frage mich wirklich, ob ICH in jeder Lebenslage gleich wehrhaft bin – sein kann. Antwort: NEIN! Unter der Geburt war ich alles andere als das. Ich war verunsichert, sensibel und emotional sehr offen für alle Sinneseindrücke, insbesondere auch für die Worte der Ärzte und Hebammen. Aber was macht die Geburt – als Situation – so besonders, dass aus mündigen, starken Frauen, verängstigte Wesen werden, die sich nicht adäquat zur Wehr setzten und verteidigen können? Hierzu fand ich erstaunliche Antworten von der Diplom Psychologin Alexandra Kopf in ihrem Buch „Traumgeburt – Gelassenheit, Entspannung und Schmerzkontrolle durch Selbsthypnose“.
Bewusstseinsveränderungen unter der Geburt und was sie bewirken – Stichwort: Kommunikation
Alexandra Kopf sagt, dass sich Menschen fast automatisch in einen tranceähnlichen Zustand begeben (hier sind explizit keine Hypnobirthingtechniken gemeint!), wenn sie sich in einer Extremsituation befinden. Dies trifft definitiv auch auf die Geburt zu. Trance ist eine Art Bewusstseinsveränderung, die bestimmte signifikante Merkmale aufweist – insbesondere in Bezug auf die Kommunikation. Deshalb ist es auch von enormer Bedeutung, wie Ärzte und Hebammen mit der Gebärenden sprechen. {Einen schönen Artikel, der sich mit der Sprache in der Geburtsmedizin beschäftigt, hat Susanne von Meine Traumgeburt geschrieben.}
Folgende Merkmale sind charakteristisch für einen veränderten Bewusstseinszustand – auch Trance genannt:
- Die eigene Aufmerksamkeit ist stark fokussiert, so dass man dazu neigt, alles auf sich zu beziehen, was im Raum gesprochen wird.
- Man ist besonders hellhörig und nimmt alles intensiver war – auch eigentlich nebensächlich hingeworfene Gesprächsfetzen können dann große Bedeutung erlangen.
- Innere Bilder werden stärker aktiviert als im normalen Alltag. Das Innere Bild ist ein Vorstellungsbild, das sich aus einer Verbindung von neuen und bereits gespeicherten Sinneseindrücken zu einer ganzheitlichen Vorstellung zusammensetzt. So können bestimmte wahrgenommene Worte, die in der Vergangenheit negativ besetzt wurden, dazu führen, dass sich in der Vorstellung der Gebärdenden ein innen Bild manifestiert, welches sie stark triggert. In einer solchen Situation ist das rationale Denken und Handeln eingeschränkt, so dass eine konsequentes zur Wehr setzen nicht erwartet werden darf.
- Das Verhalten, Mimik, Gestik und bestimmte Wörter und Formulierungen werden von der Gebärenden anders eingeordnet als im normalen Alltag. Dies scheint aber den meisten Geburtshelfern nicht bewusst zu sein. Sie agieren mit den gebärenden Frauen, als wenn sich diese eben nicht in einem Ausnahmezustand befänden.
- Die Informationsverarbeitung ist weniger rational als sonst und eher durch ein bildhaftes Verständnis geprägt. Worte wie „Blasensprengung“ und „im Becken stecken bleiben“ erzeugen kein positives inneres Bild und verunsichern und verängstigen Frau unnötig unter der Geburt.
- Ein weiteres Merkmal ist die selektive Amnesie, dass heißt, manche Informationen sind ganz besonders im Fokus, während andere sogar vergessen werden. Erinnert ihr euch noch an die Namen aller anwesenden Geburtshelfer? Ich nicht – waren vielleicht auch zu viele 😉 .
- Das wichtigste Merkmal ist die gesteigerte Suggestibilität. Das bedeutet, dass es eine besondere Bereitschaft oder Empfänglichkeit für bestimmt Informationen oder Sachverhalte gibt, die die Gebärende in ihre Wahrnehmung integriert und dann erlebt. Leicht dahin gesagte Sätze oder Floskeln können sich extrem einprägen und/oder wortwörtlich verstanden werden. Dies kann zu der paradoxen Situation führen, dass die Ankündigung: „Sagen Sie Bescheid, wenn Ihr Kreislauf wegbricht.“ – genau zu diesem Umstand führen. Jeder Satz und jedes Wort kann eine unmittelbare Einladung in ein bestimmtes Erleben sein.
Zudem ist noch von Bedeutung, auf welche individuellen Erfahrungen die gesagten Worte treffen – also ob eine Frau getriggert wird oder nicht. Davon hängt ebenfalls ab, ob Wort/Sätze als eher positiv oder als negativ bewertet werden.
Negativsuggestionen
Es gibt viele Quellen für Negativsuggestionen. Sie haben aufgrund der fokussierten Aufmerksamkeit und der erhöhten Empfänglichkeit eine besondere Macht unter der Geburt. Verneinungen wären hier ein schönes Beispiel:
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
oder
„Das ist gar nicht schlimm.“.
Unter „normalen“ Umständen würden wir diese Worte auch so verstehen, wie sie vermutlich gemeint sind – beschwichtigend, aber während des veränderten Bewusstseinszustandes bleibt unser Fokus auf SORGEN und IST SCHLIMM haften, ohne dass wir das bewusst steuern könnten. Auch Witze, die eigentlich nett gemeint sind, könnten nach hinten los gehen. In einem tranceartigen Bewusstseinszustand ist man nämlich nicht in der Lage Ironie zu verstehen, da man dafür das rationale Verständnis benötigt. Im Trancezustand ist das Verstehen allerdings mehr bildlicher und emotionaler Natur. So können auflockernde Scherze, im schlimmsten Fall zu gravierenden Missverständnissen führen. Nonverbale Signale wie Körperhaltung, Mimik und Gestik haben ebenfalls eine hohe suggestive Kraft. Ein unkommentierter, aber sehr kritischer und sorgenvoller Blick auf das CTG, kann bei der Gebärenden Ängste auslösen. Ebenso plötzlich ausbrechende Hektik im Kreißaal kann dazu führen, dass die Frau verunsichert wird. Selbst wenn der eigentliche Grund dafür die Gebärende im benachbarten Kreissaal ist. Hieran wird deutlich, wie sehr man als Gebärende dazu neigt alles auf sich zu beziehen. Weiterhin können Geruch, Geräusche und Licht Negativsuggestionen bewirken.
Ein anderer Mensch
Und was bedeutet das jetzt alles für die „Schuldfrage“? Selbst Schuld, du Opfer? Eher nicht! Ein Satz, der mir aus den Kommentaren in meinem Blog nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, lautet:
„{Unter der Geburt} … denkt man anders, handelt man anders und ist ein komplett anderer Mensch als man es sonst von sich gewöhnt ist und extrem offen und sensibel für alles was um einen herum passiert. …“
In diesem Satz nennt Mama Blume alle signifikanten oben beschriebenen Merkmale der Bewusstseinsveränderung, die eine Geburt mit sich bringt. Sie schildert dies aus ihrem eigenen Erleben heraus. Es gibt noch hunderte ähnlicher Aussagen von Frauen, die sich während der Geburt als ein anderer Mensch wahrgenommen haben – nicht wehrhaft, nicht rational denkend, nicht emotional standfest.
Nachher ist man immer schlauer
Wir sind als Gebärende eben nicht in der Lage, die an uns herangetragenen Informationen nach ihrem logischen und rationalen Gehalt zu beurteilen, so wie wir normaler weise dazu im Stande sind. Wir sind sehr leicht emotional angreifbar und schneller verunsichert. Auch negative Erlebnisse aus der eigenen Biographie belasten unser Urteilsvermögen stark, da wir leichter getriggert werden können. All diese Tatsachen führen dazu, dass eine starke, mündige Frau unter der Geburt zu einem wehrlosen Opfer (gemacht) wird, aber es ist nicht ihre Schuld! Es wäre die Aufgabe – nein die PFLICHT – aller Geburtshelfer, Ärzten wie Hebammen, dass sie sich diesen Umstand bewusst machen und noch mehr Achtsamkeit bei ihrer verbalen und nonverbalen Kommunikation walten lassen. Eine gebärende Frau sollte sich überhaupt nicht in einer Lage befinden müssen, in der sie wehrhaft sein muss. Das ist einfach grundlegend falsch. In der Ausbildung oder in gesonderten Seminaren, sollten die Geburtshelfer explizit geschult werden, welche enorme Macht die Kommunikation unter der Geburt hat. Sie müssen für dieses so wichtige Thema sensibilisiert werden! UNBEDINGT! Keine Frau, die geboren hat, sollte sich als Opfer fühlen müssen oder als solches beschuldigt werden, nur weil sie nicht in der Lage war wehrhaft zu sein. Sie kann es nicht. Erst im Nachhinein, wenn der tranceähnliche Zustand vorüber ist, gestehen viele Frauen: Nachher ist man immer schlauer! – so auch ich.
Übrigens ganz allgemein finde ich: Die Schuldfrage sollte niemals beim Opfer liegen, sondern immer beim Täter!!!
*EURE MOTHER BIRTH*
Quelle: Kopf, Alexandra: Traumgeburt Gelassenheit, Entspannung und Schmerzkontrolle durch Selbsthypnose, Heidelberg 2015, 1.Aufl., S.28-32
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Ich muss sagen, es hat mich Überwindung gekostet, mich darauf einzulassen, es zu lesen. Die grundsätzliche Aussage in Deiner Überschrift, dass Opfer selbst schuld sein könnten, macht mich rasend! Also nicht, dass Du das als Überschrift hast, sondern dass es diesen Vorwurf in unserer Gesellschaft überhaupt gibt. Das ist so krank – auf jedes Opfer bezogen, egal wessen es Opfer geworden ist.
Ich bin aber so froh, dass ich mich doch getraut habe, auch wenn mich Deine Überschrift so dermaßen getriggert hat! Da sind so tolle Aussagen drin, die bei mir wahre eine Flut von „aha!“ und „ach soooo!“ ausgelöst haben. Danke für die Vielzahl neuer Erkenntnisse, die mir einfach nicht bewusst waren!
Ich freue mich sehr, dass du dich überwinden konntest meinen Text zu lesen. Und du kannst mir glauben, dass derartige Aussagen mir persönlich absolut gegen den Strich gehen!!! Sie sind eine absolute Frechheit und machen die Frauen ein zweites mal zum Opfer *Kopf schütteln* Wie mir das vorgeworfen wurde, hat es mich tief – wirklich tief – tief getroffen! Und ich bin eigentlich nicht so leicht zu beeindrucken, wenn ich nicht gerade gebäre 😉
Ich bin ja neugierig 😉 … Bei welchen Aussagen ist bei dir denn ein Licht aufgegangen? – ging mir übrigens nicht anders 😛 Es wird sonst immer so abgetan als „die Frau und ihre Hormone wieder“ … Das kotzt mich so an. Es ist so negativ behaftet und verstaubt aus einer Generation übernommen, deren Frauenbild ich nicht unterstützen mag.
Ach ja, du brauchst keine Angst vor meinen Texten haben – ich schreib meist positiv und wenn nicht, steht schon ne Warnung vor 😉
Liebe Grüße
Mother Birth
Dass Du solche Aussagen nicht tätigst, war mir klar! Keine Sorge! Mich macht diese Aussage so dermaßen fertig, dass ich mich einfach schon allein deswegen sehr überwinden musste.
Besonders „erleuchtend“ war für mich die Tatsache, dass man sich psychisch in einer Ausnahmesituation befindet. Ich war nicht mehr „klar“. Und gerade auch die von Dir erwähnte selektive Wahrnehmung war bei mir sehr stark. Das alles war mir gar nicht bewusst und war einfach erhellend zu lesen.
Danke dafür!
Bitte! Ich wollte, dass Frauen ihre subjektive Wahrnehmung – „ich fühle mich ganz anders“ – wissenschaftlich untermauert und bestätigt finden. Das hat mir unglaublich geholfen, als ich es gelesen habe. Ich hoffe dir auch <3
Liebe Grüße
Mother Birth
Ich bin im Nachhinein irre froh, dass ich mich überwunden habe zu lesen, denn JA, es hat mir geholfen! Also, meine beiden Geburten waren sehr gut; nun kann ich mich selbst aber noch besser einordnen!
Das freut mich sehr <3 – Danke für den Feedback. Ich finde es unglaublich hilfreich!
Toller Artikel, liebe Motherbirth. Deshalb find ich den Umstand so krass, wenn frau ihre Geburtshelfer erst in diesem Ausnahmezustand kennen lernt. Ich hab mir schon oft die Frage gestellt, wie anstrengend das auch für eine Hebamme oder einen Arzt im Spital sein muss, wenn man die Gebärende erst zu diesem Zeitpunkt, wenn sie in diesem speziellen Zustand ist, kennen lernt. Deshalb bin ich der Meinung, ist es auch so wichtig, dass eine Hebamme oder ein Arzt, der mich in meiner Geburt begleitet mich schon einige Zeit begleitet, weiss, wie ich „normal“ ticke. Ich glaube, es ist unter dieser Extremzustandssituation auch für die Helfer extrem schwierig, sich auf die Gebärende einzulassen, weil sie den „Normalzustand“ gar nicht kennen. Vielleicht handeln auch deswegen viele Ärzte und Hebammen bei Krankenhausgeburten so bevormundend, weil sie gar nicht in der Lage sind, sich in die Situation hinein zu fühlen.
Ich vergleich das mit der Situation, wenn ich an eine Party geh und ein paar Freunde von mir waren schon ein zwei Stündchen früher dort, haben schon ein paar Bierchen getrunken und sind in diesem lustigen, angesöseltem Zustand. Und dann komm ich nüchtern dazu. Da fühlt man sich auch total daneben irgendwie. Aber die andern haben eine riesen Party, sind halt auch in einem anderen Bewusstseinszustand. Zum Glück kann man den dann mit ein paar Bier wieder aufholen, hihi 😉 Ich weiss der Vergleich ist etwas einfach. Aber mich würde das extrem stressen, wenn ich Hebamme oder Arzt wär, wenn ich meine Patienten nur in dieser Situation antreffen werde. Vielleicht resultiert ja wirklich unter diesem Stress dann auch das Handeln und die Kommunikation, welche die Geburtshelfer in den Spitälern heute an den Tag legen.
Und ja, im Nachhinein ist frau immer schlauer. Leider.
Danke! Es freut mich, dass dir mein Beitrag so gut gefallen hat <3
Du sprichst auch einen entscheidenen Punkt an: Wenn sich die anwesenden Personen bei der Geburt nicht ausreichend kennen, ist es fast unvermeidbar, dass eine Frau unbewusst getriggert wird. Die Geburtshelfer benötigen unbedingt "Hintergrundwissen", aber auch dann muss immer noch sehr behutsam kommuniziert werden.
Deinen Vergleich mit den angetrunkenen Gästen auf der Party finde ich gar nicht so schlecht – er passt sogar sehr gut. Er verdeutlicht plakativ, was das grundsätzliche Problem bei unterschiedlichen Bewusstseinszuständen – betrunken sein gehört definitiv dazu – ist: man versteht sich einfach nicht.
Ich persönlich würde bei der nächsten Geburt noch weiter gehen und jegliche verbale Kommunikation verbieten und die nonverbale auf ein Minimum reduzieren. Bin aber auch nicht der Durchschnitt 😉 …
Liebe Grüße
Mother Birth