Immer noch fühlen…

Im Radio läuft „Immer noch fühlen“ von Revolverheld. Ich höre gar nicht den ganzen Text, aber einige Worte brennen sich mir ein:

… es ist so lange her…

… es ist so viel geschehen…

… wir können es immer noch fühlen…

… nur dieses Gefühl bleibt für immer bestehen…

Worte, die mich berühren. Die, ein Gefühl in mir wecken…

DIESES GEFÜHL…

Es ist so lange her, dass mein erstes Kind geboren wurde. Es ist so viel geschehen – ich habe zwei weitere Kinder zur Welt gebracht und durfte zwei wundervolle Geburten erleben. Ich kann es immer noch fühlen – doch dieses Gefühl von damals ist heute noch genauso präsent. Nur dieses Gefühl bleibt für immer bestehen

Das Gefühl, was wir als Mütter haben, wenn unsere Kinder geboren wurden. Diesen einen Moment werden wir nie vergessen. Er ist so einschneidend, so überwältigend, so emotional. Es sollten Glücksgefühle sein, die an diesen Moment erinnern. Oft ist es aber das Gefühl versagt zu haben. Das Gefühl gedemütigt worden zu sein. Das Gefühl von Übergriffigkeit. Das Gefühl von Hilflosigkeit. Das Gefühl von Erniedrigung. Das Gefühl von Enttäuschung. Das Gefühl von Trauer. Das Gefühl von Angst. Das Gefühl von Panik. Manchmal auch das Gefühl von Wut.

Gefühle verjähren nicht!

All diese Gefühle kenne ich. Ich verbinde sie mit der Geburt meines ersten Kindes. Ich werde sie immer damit verbinden. Gefühle verjähren nicht! Sie verschwinden nicht einfach. Sie haben Bestand. Sie überdauern – ein Leben lang.

Gefühle, die man mit der Geburt der eigenen Kinder verbindet, sollten – wenn irgendwie möglich – doch gute sein und sind doch viel zu oft andere… Frauen vergießen auch noch nach 40 Jahren Tränen, wenn sie an die traumatische Geburt ihres – nun mittlerweile erwachsenen – Kindes denken. Sprechen können sie oft noch immer nicht darüber. Sie sind sprachlos. Finden keine Worte dafür, was ihnen geschehen ist. Sie sind bis heute traumarisiert. Der Schmerz sitzt zu tief und wurde nie aufgearbeitet.

Das Credo:

„Darüber spricht man nicht!“

wiegt immer noch schwer. Zu schwer. Auch Hilfsangebote für Frauen mit traumatischen Geburtserlebnissen gibt es bis heute viel zu wenige und der Zugang zu ihnen ist schwer und langwierig. Viele bleiben ohne Hilfe allein mit ihren Gefühlen zurück. Sollen es darauf beruhen lassen. Die Zeit heilt alle Wunden… Tut sie nicht!!! Die Frauen geben nur irgendwann auf, öffentlich darüber zu sprechen. Zu weinen. Der Schmerz aber bleibt. Die Trauer bleibt. Die Enttäuschung bleibt. Vielleicht bliebt auch die Wut… Sie werden still. Leiden still. Aber nur weil es nicht sichtbar ist, heißt es noch lange nicht, dass diese Gefühle nicht da sind. Nicht mehr da sind. Das sollte uns immer bewusst sein.

Relativierungen – Maßregelung der eigenen  Empfindungen

Gewalt in der Geburtshilfe sind keine Einzelfälle. Es (be)trifft viele Frauen. Mehr als sich viele eingestehen wollen. Und die Dunkelziffer ist hoch. Die Frauen schweigen – aus Scham und Angst. Sie ziehen sich zurück in Selbstvorwürfen. Sie leiden. Und viele glauben, sie wären selbst Schuld. Es wäre ihre Schuld, dass ihnen so etwas passiert ist.

Einige trauen sich. Sprechen offen an, was ihnen widerfahren ist. Was ihnen angetan wurde. Und dann? Verständnis? Mitgefühl? Aus meiner Erfahrung: selten. Sowohl von Männern, als auch von Frauen. Stattdessen Relativierungen – Maßregelungen der eigenen Empfindungen. Andere meinen mir erklären zu dürfen, was ich zu fühlen habe. Was angemessen ist. Wie ich das Geschehen einzuordnen habe. Relativierungen sind Übergriffigkeiten!

„Man sollte doch froh sein, dass alle gesund sind/überlebt haben.“

Klar, bin ich das! Aber Gewalt darf durch nichts gerechtfertigt werden! NIEMALS!! NIE!!! Ich bin davon überzeugt, dass keinerlei Gewalt nötig ist, um jemanden zu retten – weder physische noch psychische. Davon mal ganz abgesehen, leiden die Frauen danach seelisch. Die psychische Gesundheit der Mutter wird immer noch viel zu wenig Beachtung geschenkt.

Solche Relativierungen tun weh. Das habe ich selbst mehrfach erleben müssen. Dieses Unverständnis. Diese Überheblichkeit. Es fühlt sich an, als wenn man erneut erniedrig wird. Ein weiterer Tiefschlag. Ein weiterer Grund zu schweigen. Ein weiterer Grund zu zweifeln. Ein weiterer Grund zu glauben, dass man falsch liegt. Ein weiterer Grund sich selbst die Schuld zu geben.

Mir wurde mal nahe gelegt, ob ich nicht „überreagiert“ hätte – vielleicht „hysterische wäre“

„Geburten sind eben so. Was hätte ich denn bitte erwartet?!“

Sprachlos… Eine Verhöhnung! Was suggiert uns das? Was sagt das über unser Frauenbild aus? Was sagt das über uns als Gesellschaft aus? Alles hysterische Weiber, die überreagierend Unzurechnungsfähig und irrational? Hormongesteuert? Labil?

Meint ihr ich würde jetzt zu klischeehaft werden? Ich wünschte, ich könnte diese Frage mit JA beantworten. Aber leider leben wir immer noch in einer Gesellschaft, in der diese Vorurteile gegenüber Frauen stark verankert sind. Man sollte meinen, dass sie schon längst überwunden sind. Dass wir aufgeklärt sind. Dass wir emanzipiert sind. Aber das Frauenbild, welches in der breiten Öffentlichkeit vorherrscht, ist – vorsichtig ausgedrückt – durch den männlichen Blickwinkel geprägt. Und der wirft oft kein schönes Licht auf uns Frauen. Für mein Empfinden ist er noch viel zu oft sehr abwertend.

Mitgefühl statt Vorwürfe

Ich möchte am liebsten jede Frau umarmen, die Gewalt unter der Geburt erleben musste. Ihr sagen, wie wertvoll und wunderbar sie ist. Dass es nicht ihr Fehler war, dass sie Gewalt unter der Geburt erleben musste. Dass keine Frau daran Schuld ist – weder sie, noch ich. Wir sind Opfer.

Und ja, mit ist bewusst, dass die „Täter“ oft aus Zeitmangel, eigener Überforderung oder Angst heraus agieren. Ihnen vielleicht nicht einmal bewusst ist, was sie da anrichten. Was ihre Worte, ihre Taten für Folgen haben. Dass sie diese Frauen teils ein Leben lang verfolgen werden.

Aber dieses Bewusstsein ist wichtig. Ärzte und Hebammen müssen sich dem stellen. All den Geschichten. Sie müssen zuhören. Sie müssen ihr Handeln reflektieren. Sie müssen sich selbst Fehler eingestehen. Sie müssen sich entschuldigen.

Es würde etwas ändern. Für die Frauen. Sie werden gesehen. Ihr Schmerz. Ihre Trauer. Sie als Mensch. So könnte es besser werden. Für die Zukunft und für sie Frauen selbst, um endlich einen Abschluss finden oder zumindest mit der Verarbeitung beginnen zu können. Ich warte noch heute darauf, dass sich irgendein Verantwortlicher einem Gespräch stellt. Nichts. Auch nach 7 Jahren nicht. Ich werde keine Entschuldigung bekommen. Ich werde kein Mitgefühl bekommen. Kein Verständnis. Relativierungen und angedeutete Mitschuld sind die einzige Rückmeldung. Sie hätten meine offenen Worte als Anlass nehmen können, um es in Zukunft besser zu machen. Stattdessen haben sie diese Chance vertan. Es wird weitere Opfer fordern – so unnötig…

Professionelle Hilfe

Professionelle Hilfe gibt es viel zu selten. Frauen wissen von den betreffenden Angeboten nicht. Es gibt keine Broschüren. Das Thema wird totgeschwiegen. Ich hatte nur durch Zufall, das Glück Hilfe zu bekommen. Viele Frauen aber leiden Jahre oder gar Jahrzehnte lang. Stumm. Ungehört.

Es ist immer noch ein gesellschaftliches Tabu eine durch Gewalt traumatische Geburtserfahrung anzuprangern, zu bedauern oder zu betrauern. Man soll damit leben. So weiter machen wie bisher.

Aber dieses Gefühl bleibt.

Schwer.

Drückend.

Es lastet auf dem Herzen.

Auf der Seele.

Immer ein Schatten.

Ein Leben lang.

Ich fordere eine Geburtshilfe, in der bewusst achtsam mit den Müttern umgegangen wird. Wie man mit ihnen spricht. Wie man sie untersucht.

Dieses Gefühl, wie man unter der Geburt behandelt wurde – ob wertschätzend und achtsam oder grob und herablassend – dieses Gefühl bleibt im Gedächtnis. Es prägt die Frauen. Ihr Selbstbild. Ihr Selbstvertrauen.

Man kann so vieles kaputt machen in dieser kurzen fragilen Zeit – aber ebenso vieles gut.

Was wollen wir?

Starke, selbstbewusste Frauen? Dann sollten wir sie unter der Geburt auch so behandeln! Sie sind Schöpferinnen. Sie leisten unter der Geburt unglaubliches. Das verdient Respekt, Achtung und Wertschätzung. Keine Demütigung, Gewalt oder dergleichen.

Wann wachen wir endlich auf und werden laut?

Immer wenn ich wieder gegen Relativierungen anrede, wird mir schmerzlich bewusst, dass es noch ein langer Weg ist. Wir müssen das Bewusstsein für diese Problematik breit in die Gesellschaft und in die Politik tragen.

Ich muss lauter werden. Lauter, für all die Frauen, die schweigen. Die zum Schweigen gebraucht wurden. Die keine Kraft mehr haben zu kämpfen. Sich zu wehren. Denn als unabänderlich hinnehmen, möchte ich es nicht. Kann ich es nicht – denn ich bin auch betroffen.

Die Wahrheit wollen viele nicht hören. Sie nicht sehen. Sie schauen weg. Ich schaue hin und sehe all die traumatisierten Frauen. Sie leiden still. Oft ein Leben lang. In ihnen wohnt ein Gefühl von

  • Trauer
  • Wut
  • Angst
  • Scham
  • Schuld

Das Gefühl ist so wichtig und wir schenken ihm immer noch viel zu wenig Beachtung.

#AchtsamkeitinderGeburtshilfe

Und um es mal – überspitzt- auf den Punkt zu bringen:

Ich brauche keine Ärzte, die mich schwaches, emotional gesteuertes Weibchen bei der Geburt erretten und mich von meinem Kind entbinden, sondern einen Menschen, der mir mit Achtung und Achtsamkeit zur Seite steht und mich bei der Geburt unterstützt.

 

*EURE MOTHER BIRTH*

 

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2 Gedanken zu „Immer noch fühlen…

    • Motherbirth Autor des BeitragsAntworten

      Danke Bine <3
      Du Gefühlswelt der Mütter wird viel zu oft unter den Teppich gekehrt. das finde ich so schlimm. Das verhindert oft auch, dass sich Frauen Hilfe holen nach traumatischen Geburten. Und auch, dass sich etwas ändert, weil sie laut werden und es anprangern.
      Deshalb war es mir so wichtig diesen Text hier zu schreiben.
      Ein guter Anfang für meine neue Seite, wie ich finde! Ich will wieder laut werden.!!!

      Liebe Grüße
      Mother Birth

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